Aktuell

Update: Spinale Muskelatrophie (SMA)

Die 5q-assoziierte spinale Muskelatrophie (5q-SMA) gehört zu den häufigsten genetisch bedingten neuromuskulären Erkrankungen. Die Häufigkeit beträgt 1 : 5 000 – 1 : 10 000. Ca. jede 35.-45. Person der Normalbevölkerung ist symptomloser Anlageträger. Die Gruppe der Spinalen Muskelatrophien umfasst genetisch-bedingte Erkrankungen, die durch einen langsam fortschreitenden Untergang von Vorderhornzellen im Rückenmark und z.T. auch motorischer Hirnnervenkerne gekennzeichnet ist. Die Vorderhornzellen leiten Impulse an die Muskulatur weiter, die für die willkürlichen Bewegungen wie Krabbeln, Laufen und Kopfkontrolle zuständig sind.

Die klinische Klassifikation der SMA gibt eine Unterteilung in Typ I, II, III und IV vor. Diese Unterteilung beruht im Wesentlichen auf der Definition erworbener Tätigkeiten (z.B. Sitzen, Laufen). Bei der SMA Typ I und Typ II handelt es sich um die schwere Form der Erkrankung, die bereits im Neugeborenenalter bzw. im zweiten Lebenshalbjahr diagnostiziert wird. Die ersten Symptome zeigen sich in Form einer ausgeprägten Muskelschwäche, das freie Sitzen ist nicht möglich. Das klinische Bild wird im weiteren Verlauf hauptsächlich durch die Trinkschwäche und die respiratorischen Probleme geprägt. Die Mehrzahl der betroffenen Kinder stirbt ohne Therapie innerhalb der ersten zwei Lebensjahre. Der Typ III ist vom Verlauf milder und beginnt zwischen dem Säuglings- und Jugendalter, wobei das klinische Spektrum sehr breit ist. Die Kinder können das Sitzen und meist Laufen erlernen, verlieren aber die Gehfähigkeit später häufig wieder. Daher ist ein großer Teil der Kinder später auf den Rollstuhl angewiesen. Betroffene mit einem Typ IV erkranken nach dem 30. Lebensjahr.

Da die motorische Entwicklung in den ersten Lebensjahren z.T. verzögert abläuft, ist eine klinische Unterscheidung zwischen Typen oft zum Diagnosezeitpunkt nicht sicher zu treffen. Insgesamt erlaubt der variable Krankheitsverlauf keine Vorhersage über die individuelle Prognose.

Genetische Ursachen

Die Spinale Muskelatrophie wird durch eine Veränderung im Erbgut hervorgerufen.

Das Erbgut liegt bei jedem Menschen in Form von DNA-Molekülen vor, die in bestimmten Abfolgen die sogenannten Gene bilden. Die Gene sind ein Bauplan, der allen Prozessen im menschlichen Körper zu Grunde liegt. Krankheitsursächliche Genveränderungen werden als Mutationen oder pathogene Varianten bezeichnet.

Die häufigste Form einer früh manifestierenden SMA, die sogenannte 5q-SMA, wird autosomal rezessiv vererbt und beruht auf einer Mutation beider Allele (Homozygotie) des Gens SMN1 (survival-motor-neuron 1) auf Chromosom 5 (5q13.2). Die häufigste Art der Mutation ist eine Deletion (Stückverlust) des SMN1-Gens.

Nur bei 2-5% der Patienten liegt eine heterozygote (also nur auf einer der beiden Kopien des Gens befindliche) Deletion zusammen mit einer Punktmutation auf der zweiten elterlichen Genkopie vor

Etwa 2% der Anlageträger tragen zwei SMN1-Kopien auf einem Allel (SMN1-Duplikation) und keine SMN1-Kopie auf dem anderen Allel (SMN1-Deletion) (Genotyp: SMN1[2+0]).

Das unterschiedliche Manifestationsalter bzw. der unterschiedliche Verlauf der Formen I bis III wird wesentlich durch die Anzahl der vorhandenen Kopien des chromosomal benachbarten und nahezu identischen Gens SMN2 beeinflusst, von dem im Vergleich zum Gen SMN1 nur eine geringe Menge Volllängen-Transkript abgelesen wird und somit nur eine geringe Menge eines funktionsfähigen Proteins gebildet wird.

Die auf einer SMN1-Mutation beruhende 5q-SMA ist die häufigste Form der SMA im Kindesalter. Daneben gibt es weitere, auf Mutationen in anderen Genen beruhende Erkrankungen, bei der es zu einem klinisch ähnlichen Verlust von motorischen Vorderhornzellen kommt. Bei diesen differentialdiagnostisch in Erwägung zu ziehenden Erkrankungen sind auch autosomal dominante oder X-gebundene Erbgänge möglich.

Vererbung

Die DNA, die das Erbgut des Menschen darstellt, bildet zwei Sätze von je 23 Chromosomen. Dabei ist ein Satz der Chromosomen von der Mutter vererbt, der andere Satz vom Vater.

Das SMN1-Gen ist auf Chromosom 5 lokalisiert. Die Erkrankung wird autosomal rezessiv vererbt: Von einem autosomal rezessiven Erbgang spricht man, wenn bei jeweils einem Elternteil auf je einer Erbanlage ein „Schreibfehler“ (Mutation) vorliegt, der bei den Nachkommen nur zur Erkrankung führt, wenn von beiden Elternteilen ein „Schreibfehler“ weitervererbt wird. Dafür wird ein Risiko von 25% angegeben. Es besteht eine Chance von 25%, keine der Erbanlagen mit dem Schreibfehler zu erben und eine Wahrscheinlichkeit von 50%, eine Erbanlage mit der Mutation zu erben. Eine pränatale Diagnostik ist für Eltern eines betroffenen Kindes in einer weiteren Schwangerschaft zuverlässig möglich.

Diagnosestellung

Die klinische Verdachtsdiagnose einer SMA ergibt sich aus der klinisch-neurologischen Untersuchung, möglicherweise unter zu Hilfenahme elektrophysiologischer Untersuchungen. Der Creatinkinase (CK)-Wert, der auf eine Muskelerkrankung hinweisen kann, ist in der Regel nicht oder nur moderat erhöht.

Auch wenn ein charakteristisches klinisches Bild eine SMA nahelegt, erfolgt die Diagnosesicherung mittels einer humangenetischen Diagnostik aus einer Blutprobe.

Verlauf und Behandlung

Die Spinalen Muskelatrophien sind chronische, fortschreitende Erkrankungen, wobei Schweregrad und Verlauf unterschiedlich sein können.

Eine effektive Behandlung erfolgt multidisziplinär und bedarf einer Zusammenarbeit von Arzt, Physiotherapie, Ergotherapie und Pflege, oft auch mit psychologischer Unterstützung für die Betroffenen und ihre Angehörigen.

Molekulare Therapie

Seit Juli 2017 gibt es in Deutschland eine erste zugelassene Therapie der spinalen Muskelatrophie mit dem Präparat Spinraza® (Nusinersen). Nusinersen ermöglicht keine grundsätzliche Heilung, verlangsamt den Progress der Erkrankung jedoch wesentlich und führt in vielen Fällen sogar zu einem Zugewinn an motorischen Fähigkeiten. Daher ist ein früher Therapiebeginn, optimalerweise vor dem Einsetzen der Neurodegeneration mit Verlust von motorischen Fähigkeiten, entscheidend.

Genersatztherapie

Mithilfe des Adenovirusassoziierten Virus-Vektors (Viruskapsid, sog. AAV9-Vektor) versucht man ein Stück komplementäre DNA, die für das SMN-Protein kodiert, durch eine einmalige intravenöse Infusion über die Blut-Hirn-Schranke in die motorische Vorderhornzelle einzuschleusen.

Der Wirkstoff Onasemnogene Abeparvovec-Xioi (Zolgensma®) wurde von der Firma Avexis/Novartis entwickelt und ist in den USA seit Mai 2019 zur Behandlung von Kindern mit SMA bis zum Alter von zwei Jahren zugelassen. Mit einer Entscheidung der European Medicines Agency (EMA) wird im ersten Halbjahr 2020 gerechnet.

Selbsthilfegruppen/nützliche Adressen: