Magazin

Schnell und einfach Klarheit schaffen

Wenn Säuglinge sich auffällig wenig bewegen, könnte eine spinale Muskelatrophie (SMA) dafür verantwortlich sein – eine schwere Nervenzellenschädigung, die im schlimmsten Fall zum Tode führt. Mit einem Gentest lässt sich die Krankheit frühzeitig diagnostizieren und gegensteuern.

Am Anfang deutete nichts darauf hin, dass Katharina an einer schweren Erkrankung leiden könnte. Aber wenige Wochen nach ihrer Geburt fiel den Eltern ihre körperliche Passivität auf. Sie strampelte nur wenig und wenn doch, dann scheinbar nur mit halber Kraft. Ihre Arme konnte sie kaum anheben und auch das Atmen schien ihr schwerzufallen. Solche Anzeichen sind typisch für eine spinale Muskelatrophie (SMA).

Sterbende Nervenzellen behindern die Muskelsteuerung

SMA vereint eine Gruppe von Krankheiten, denen eines gemeinsam ist: das kontinuierliche Absterben von motorischen Nervenzellen im Rückenmark. Diese Nervenzellen haben die Aufgabe, die Muskulatur zu steuern. Sind sie geschädigt, können sie die vom Gehirn ausgesandten Impulse nicht mehr weiterleiten. Die Folge: die Muskeln verkümmern, es kommt zu Muskelschwund (Muskelatrophie), Lähmungen (Paresen) oder verminderter Muskelspannung (Muskelhypotonie). Im schlimmsten Fall wird die Muskulatur so schwach, dass der Patient sich nicht mehr bewegen kann. Es ist ihm dann häufig nicht möglich, den Kopf gerade zu halten oder sich auf den Rücken zu drehen. Wenn auch fürs Atmen und Kauen erforderliche Muskeln betroffen sind, lässt sich eine künstliche Beatmung und Ernährung nicht vermeiden.

Ein Leben mit massiven Einschränkungen

„SMA stellt die zweithäufigste Erbkrankheit dar, die autosomal-rezessiv vererbt wird. Das bedeutet, dass jeweils beide gesunde Eltern in ihrem Erbgut eine entsprechende genetische Mutation aufweisen, die von beiden, also doppelt weitergegeben, beim Kind die Erkrankung auslöst. Etwa einer unter 6.000 lebend geborenen Säuglingen ist davon betroffen, Mädchen und Jungen gleichermaßen. Jede 35. Person in der Bevölkerung weist eine Anlage für die Krankheit auf, d. h. die Person trägt zwar ein defektes Gen in sich, ist aber von der Krankheit selbst nicht betroffen, da eine zweite, intakte Genkopie den Defekt ausgleicht. Tragen bei einem Paar mit Kinderwunsch jedoch beide Partner die Anlage in sich, steigt das Risiko auf 25%, das der Säugling mit SMA auf die Welt kommt“, berichtet die Humangenetikerin Dr. Saskia Kleier. In den meisten Fällen treten die Symptome bereits im ersten Lebenshalbjahr auf. Ohne Behandlung gehört diese Krankheit zu den häufigsten genetisch bedingten Todesursachen bei Säuglingen und Kleinkindern. Daher wird zurzeit geprüft, die Untersuchung in das Neugeborenenscreening aufzunehmen. Aber auch in weniger schweren Fällen bringt die Krankheit viel Leid mit sich und stellt das Leben von Familien und Patienten auf den Kopf. Die Betroffenen bleiben häufig lebenslang auf einen Rollstuhl angewiesen und in ihrer Lebensgestaltung massiv eingeschränkt. Die Krankheit lässt sich in verschiedene Schweregrade einteilen, die sich nach dem Erkrankungsbeginn, den motorischen Fähigkeiten und der Lebenserwartung richten.

Genetischer Defekt behindert Eiweißproduktion

Ausgelöst wird diese Erkrankung durch einen Gendefekt. Den Betroffenen fehlt entweder das SMN1-Gen oder dieses liegt nur in veränderter Form vor. Das SMN1-Gen hat die Aufgabe, ein für die Nervenzellen im Rückenmark notwendiges Eiweiß zu produzieren. Ist es geschädigt, stellt es das Eiweiß nicht in ausreichender Menge her. Dadurch arbeiten die Motoneurone nicht so wie vorgesehen. Motoneurone sind Nervenzellen im Rückenmark, die über feine Nervenfasern eine Verbindung zu den Muskelzellen herstellen und diese steuern. Werden diese nicht ausreichend mit Proteinen versorgt, sterben sie ab und leiten keine Signale an die Muskelzellen weiter. Die Muskelregulation bleibt gestört.

Schnelle Gewissheit per Bluttest

In der Vergangenheit erwies es sich als vergleichsweise aufwendig, die Krankheit zu diagnostizieren. Um den Befund abzusichern, arbeiteten Mediziner unterschiedlicher Fachdisziplinen zusammen und unterzogen den Patienten einer Vielzahl an Untersuchungen. Zu diesen zählten u. a. eine Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (EEG) und der Muskelströme (EMG), laborchemische Untersuchungen, bildgebende Verfahren wie MRT sowie Nerven- und Muskelbiopsien. Heutzutage stellt ein genetischer Bluttest das Mittel der Wahl dar.

Vorteile eines Gentests

Die Kosten für einen SMN1-Gentest, den ausschließlich humangenetische Praxen und Labore anbieten, übernehmen die gesetzlichen und privaten Krankenkassen vollumfänglich – auch im Fall einer nachträglichen Sicherung der Diagnose. Er weist gegenüber der herkömmlichen Diagnostik folgende Vorteile auf:

  1. Schnelligkeit. Je früher SMA diagnostiziert wird, desto flexibler die Therapieoptionen. Weil die Erkrankung teilweise sehr schnell voranschreitet, kommt einer frühzeitigen Diagnose eine große Bedeutung zu.
  2. Komfort. Ein Gentest ist einfach und komplikationslos und erfordert vom Patienten lediglich ein paar Blutstropfen. „Wenn Eltern ihrem Säugling den Stechschmerz einer Spritze zur Blutentnahme nicht zumuten möchten, reicht auch ein Wangenabstrich“, hebt die Humangenetikerin Dr. Usha Peters hervor. Weitere Untersuchungen sind selten erforderlich und nur in wenigen Fällen zu empfehlen, in denen der Gentest kein hinreichendes Ergebnis liefert.
  3. Prognostik. Ein Gentest ermöglicht genauere Prognosen als andere Verfahren. Dadurch lassen sich effektivere Therapien gestalten.
  4. Beratung. Ein Gentest bildet die Grundlage für eine humangenetische Beratung. Diese kann sich als nützlich für die Therapie erweisen. „Wir nehmen uns die Zeit, den Patienten die komplexe Materie verständlich zu vermitteln. Und wir stellen Kontakt zu den besten Experten Deutschlands her, falls eine Weiterbehandlung erforderlich sein sollte“, bringt die Humangenetikerin Dr. Astrid Preuße die Vorzüge einer humangenetischen Beratung auf den Punkt.

Linderung, aber keine Heilung

Unglücklicherweise erweist sich SMA gegenwärtig noch nicht als heilbar. Aber die Erkrankung lässt sich medikamentös aufhalten. Dadurch verliert sie an Intensität und es verbessert sich die Lebensqualität des Patienten. In Deutschland koordinieren und organisieren die neuromuskulären Zentren der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) die Therapie. Mehr Informationen unter: https://www.dgm.org/medizin-forschung/neuromuskulaere-zentren-dgm

Die Zukunft heißt Gentherapie

Der Fortschritt in der Genetik hat das Verständnis für die molekularen Prozesse vieler neuromuskulärer Erkrankungen erhöht. Gegenwärtig entwickelt die Forschung genetische Therapien, die hoffentlich eines Tages neuromuskuläre Erkrankungen aufheben oder heilen. „Ihnen liegt der Kerngedanke zugrunde, durch Reparatur des Erbgutes das Ausbrechen von Erkrankungen zu verhindern“, fasst Dr. Saskia Kleier das Prinzip zusammen. Zu diesem Zweck fügen Gentherapien künstliches genetisches Material in die Körperzellen ein. Dadurch sollen defekte Gene ersetzt oder korrigiert und ihre Funktionalität wiederhergestellt werden.

Neu Behandlungsansätze gegen Muskelatrophie

Zu den erfolgversprechendsten Therapien der jüngsten Zeit gehört das Medikament Nusinersen (Spinraza), das seit Juli 2017 in Deutschland für die Behandlung von spinaler Muskelatrophie (SMA) zugelassen ist. Es handelt sich dabei um einen Neuromodulator – also einen künstlich hergestellten Wirkstoff (Antisense Oligonukleotid), der die Aktivität des Nervensystems beeinflusst. Er zielt darauf ab, die gestörte Eiweißproduktion der Motoneuronen im Rückenmark wieder in Gang zu bringen. Das Medikament greift zu diesem Zweck korrigierend in die Decodierung des SMN2-Gens ein. Das SMN2-Gen unterscheidet sich in seinem Aufbau vom SMN1-Gen nur geringfügig. Das machen sich Genetiker zunutze, indem sie das SMN2-Gen „zweckentfremden.“ Vereinfacht ausgedrückt: Der Neuromodulator stellt eine Kopie des SMN1-Gens her, korrigiert die Defekte und lässt die Kopie die Proteinherstellung übernehmen. Viele Patienten konnten so eine Verbesserung ihrer Muskelkraft erreichen, die bei einem unbehandelten Krankheitsverlauf bislang nicht beobachtet werden konnte.

Neue Behandlungsansätze gegen Muskelschwund

Hoffnungen setzen Mediziner auch in das Medikament Ataluren, das sich für die Behandlung der Muskeldystrophie Duchenne eignet. Mit dieser Form von erblichen Muskelschwund  kommt einer unter 3.500 Jungen auf die Welt. Dieser Erkrankung liegt ein Defekt im Dystrophin-Gen zugrunde. Das Gen spielt eine wichtige Rolle für die Stabilität und die Kraftübertragung in den Muskelzellen. Der Defekt führt dazu, dass während der Decodierung die Proteinproduktion zu früh abgebrochen wird. Ataluren sorgt dafür, dass die Zellen diesen Abbruch ignorieren. Zwar gelingt dieser „Programmierungsbefehl“ nicht bei jedem Ablesevorgang, jedoch bei einem nennenswerten Teil. Das Medikament ist seit 2014 in Europa vorläufig zugelassen. Eine finale Studienauswertung steht noch aus, erste Zwischenergebnisse stimmen jedoch optimistisch.

Weitere vergleichbare Gentherapie-Studien wie z. B. AVXS-101 (STR1VE), STRONG, STR1VE, SPRINT, REACH laufen derzeit. Große Hoffnungen setzen Mediziner auch in CRISPR Therapien (siehe auch „So funktioniert Genetik“).

Weiterführende Informationen
Initiative-sma.de
Dgm.org
Smartcare.de
Sma-register.de